X. Zwischen Utopie und Realitat

Wir bitten, es dem Verfasser nachzusehen, wenn er mit einigen soziologischen und psychologischen Überlegungen endet.

Es besteht heute kein Zweifel mehr daran, daß Eindrücke und Erfahrungen der Kindheit, eine ungleich größere Bedeutung für den Menschen, die Bildung seines Charakters und sein Schicksal haben, als man dies früher annahm. In diesem Zusammenhang wäre auch zu untersuchen, welche Rolle Ferienzeiten spielen. Manches spricht dafür, daß sie sich stärker einprägen als das alltägliche, häusliche Milieu. Und was bedeutet es, wenn solche Urlaube überwiegend in gleicher Umgebung verbracht werden?

Über die sozio-kulturellen Unterschiede städtischer und ländlicher Lebensräume ist schon Manches erforscht und geschrieben, aber so Manches auch ideologisch gefaselt worden. Zunächst überschätzte man einseitig die Stadtkulturen mit höherer Zivilisation unter dem Einfluß der zahlreichen deutschen Fürstenhöfe und Patriziate. Man bewunderte die Stadtkulturen mit ihren bedeutenderen, auch früh schon internationalen Märkten, mit größeren Freiheiten der Stadtbürger, mit der Kommunikation unter Menschen verschiedener Herkunft und Ausbildung, den daraus folgenden breiteren Wissensstand und die schnelleren Innovationen. So wurde schließlich der "dumme Bauer", ähnlich wie hochnäsiger und beschränkter Adel, arrogante Offiziere, geldgierige Juden oder zerstreute Professoren zur Karrikatur. Wie es in der Regel der Fall ist, blieb auch hier eine starke ideologische Gegenbewegung nicht aus. Nach manchem Elend, das die Industrialisierung und der Frükapitalismus, zumal in den Städten, mit sich gebracht hatten, nach der Überfeinerung vieler höfischer Milieus wurde das Landleben idealisiert.

Der Einfluß von Rousseau, dann der deutschen Romantik wurde deutlich. In den weiten Parks von Versailles spielte sogar die Hofgesellschaft Bauernleben. Der nicht durch das Stadtleben verbildete und verdorbene Mensch erschien nun als der bessere schlechthin, das Dorf wurd zur Idylle stilisiert: Sorgsam pflügt der Bauer seine Acker, erntet mit ruhigen Sensenschlagen seine Wiesen ab, väterlich weidet der Hirte seine Tiere, beschlägt der Schmied die Gäule, friedlich und hilfreich leben die Menschen im Dorf miteinander, Bürgermeister, Pfarrer und Lehrer beseitigen größere Probleme.

Schon die "Jugendbewegung" und das Pfadfindertum, vor allem dann die "Blut und Boden"- Ideologie des sog."Dritten Reiches", aber auch zahlreiche Erfolgsromane der europäischen und amerikanischen Literatur, auch der Malerei lassen den Einfluß dieser Clichees verstärkt in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erkennen. Wer auf dem Lande aufgewachsen ist, wird dieses Bild korrigieren wollen. Und diese Korrektur ist nicht erst heute, wo Technik, Industrialisierung und die Massenmedien städtische und ländliche Räume weitgehend nivelliert haben, sondern auch für die Vergangenheit angebracht.
Und doch bleiben Unterschiede bestehen, womit wir wieder zu unserem engeren Thema zurücklenken.

Das Leben in ländlicher Umgebung bleibt bei manchen Vorteilen auch heute noch vergleichsweise härter und schwieriger. Dies können selbst Urlauber erfahren. Das Leben etwa in abgelegenen, gebirgigen und Waldlagen, oder in häufig Überschwemmungen ausgesetzten Gebieten, verlangt daher in der Regel größere persönliche Einsatzbereitschaft. Auch am Wolfsbrunn konnte und kann man dies heute noch erfahren. Aber härtere Lebens- und Arbeitsbedingungen schaffen auch Einstellungen zum Leben und Arbeiten, die zu Verhaltenstraditionen der betr. Bevölkerung werden. Darauf, daß Verstädterung und Wohlstand in der Generationenfolge Gefahren der Verweichlichung und Lebensuntüchtigkeit mit sich bringen, hat ein bekannter arabischer Wissenschaftler, Ibn Chaldun, bereits im 14.Jahrhundert hingewiesen.

Viele Menschen aus dem weitläufigen Raum der Marktgemeinde Kirchzell haben sich, obwohl längst entfernt berufstätig, ihr altes Haus oder doch wenigstens ein Domizil in der Heimat erhalten. Man darf dies als Zeichen dafür ansehen, daß Viele zögern, überkommene Bindungen an einen schönen Heimat- und Lebensraum leichtfertig abzubrechen. Wie sich Technik, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft entwickeln und wie sich dabei die persönlichen Schicksale der Generationen gestalten werden, kann niemand voraussagen.100 Jahre verändern heute sehr viel. Doch wo man sich auskennt, verirrt man sich seltener.
Zu den Begriffen Utopie und Realität ist damit schon einiges angeklungen. Was die Begriffe jeweils besagen, wie eng oder weit man sie fassen soll, was ihre jeweiligen Chancen und Gefahren sind, darüber können Philosophen lange Seminare abhalten. Selbst die bedeutendsten Köpfe werden dabei nicht zu einer gemeinsamen Meinung finden. Der Begriff der Utopie hat nach den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine unangemessene Aufwertung erfahren. Daß die Jugend mit Idealismus, Optimismus und Schwung stärker zu utopischem Denken neigt, ja neigen darf, ist klar. Im Gedicht "Erwartung und Erfüllung" resümierte Schiller, der immer auch ein Jüngling blieb:

"In den Ozean schifft mit tausend Masten der Jüngling; Still auf gerettetem Boot treibt in den Hafen der Greis."
Da der Verf. zu den Greisen gehört, hat er den Wert solider Boote schätzen gelernt. Er ist weder Fortschrittsoptimist noch Kulturpessimist, bedauert aber jedenfalls, daß Solidität seit mindestens hundert Jahren leider an Wertschatzung eingebüßt hat. So gehört es zum durchaus nicht immer unerfreulichen Wertewandel, Zuverlässigkeit als "Sekundartugend" verspotten zu dürfen. Worauf kann sich der Mensch aber verlassen? Am ehesten doch noch immer auf Realitäten, die man selber in seinem Leben erkannt und erprobt hat. Dies bleibt so, auch wenn sich unsere Welt in einem immer schnelleren Prozeß der Veränderung befindet.

Was bedeutet dies für unser Thema? Jeder Besitz, der nicht in Wolkenkuckucksheim liegt, ist Teil der uns umgebenden Realitäten. Wir können nur einen winzigen Teil davon beeinflussen. Wollen wir etwas erhalten, verbessern, umgestalten, so müssen wir "auf dem Teppich", d.h. vernünftig bleiben. Wir müssen wissen, daß man veränderten Verhältnissen Rechnung zu tragen hat, daß man also auch öfter Teile verändern muß, wenn ein Ganzes erhalten bleiben soll; daß man es dabei aber auch selten Allen Recht machen kann. Denn die meisten Verbesserungen haben auch negative Nebenwirkungen.
Mit dieser Überlegung wünsche ich dem Anwesen am Wolfsbrunn Glück und Segen für seine nächsten Hundert Jahre.

Martinus Emge im Juni 2007