VIII. Die erste Nachkriegszeit
Natürlich kamen später amerikanische Soldaten dann doch noch mehrfach ins Haus. Sie benahmen sich im Ganzen anständig, nichts ist hier damit zu vergleichen, was im deutschen Osten geschah.
Man suchte auch nach Waffen, die sämtlich abgegeben werden sollten. Freilich gab es da nichts Modernes zu finden: Der Professor hatte nur einen ererbten Trommelrevolver seines Vaters und einen Degenstock, die Jagdgewehre hatte Onkel Fritz Küch langst mitgenommen. Freilich gab es einige alte Säbel, Offiziers- oder Beamtendegen aus Hanauer Erbe. Die jungen Soldaten fanden doch einige Wanddekorationen mitnehmenswert: Eine große Reiterpistole aus dem 17.oder 18.Jahrhundert, einen einmal aus der Kinzig gefischten alten verrosteten Reitersäbel aus der Schlacht bei Hanau 1815 und einen Offizierssäbel des 1.Weltkriegs, von dem heute noch die Scheide übrig ist; einen Raupenhelm aus napoleonischer Zeit. Für die Mitnahme solcher "Souvenirs" durch junge Krieger mußte man Verständnis haben.
Daß die Bewohner bei der Durchsuchung ihrer Zimmer draußen warten mußten, war unerwartet. Dabei blieb aber ein silberner Serviettenring von Großvater Adolf Emge erhalten, den ein Offizier entdeckt hatte (das meiste Silber war im Garten vergraben worden, wo alle Messerklingen verrosteten). Als der Ami den Namen "Adolf" las, reichte er das kleine Stück mit dem Kommenatar "not a nice name" der Hausfrau zurück.
Das offizielle Kriegsende wird erst viele Wochen später, erst mit Unterzeichnung der Kapitulationsurkunden, zum 9.Mai 1945 eintreten. Für die Gegend bedeutete dies praktisch wenig, vorher wie nachher waren die zunächst äußerst strengen Befehle der amerikanischen Besatzungsmacht zu befolgen. Das war freilich schwer zu kontrollieren und die amerikanischen Soldaten selbst verstießen gegen ihr Fraternisierungsverbot. Wobei die Rosl besonderes Interesse fand, was sie nicht ablehnte.
Zunächst von Allem abgeschnitten, waren die Wolfsbrunner nun auf sich selbst angewiesen und ihrer kleinen Dorfgemeinde Watterbach, die sie nicht verlassen durften, gewissemaßen "gestrandet". Erst allmählich und mühsam kamen kleiner lokaler Verkehr, Post- und Geldwesen wieder in Gang. Neben dem Haus des neuen, sehr hilfreichen Bürgemeisters Alfons Haas, den beiden Gastwirtschaften der Priska Haas und Eilbachers (Meixner) war dann die kleine Poststelle in Watterbach, von der lieben, lange befreundeten und sehr hilfreichen Frau Elis Haas betreut, mit altmodischem Wandtelefon, an dem man noch kurbeln mußte, einem häufigen Ziel.
In jenen ersten Wochen der Besatzung muss ein höchst eigentümlicher
Schwebezustand geherrscht haben, lebte man doch gewissermaßen im luftleeren
Raum.
Diese Isolation, die zeitweise angenehm, ja lebensrettend war, zeigte aber dann
ihre nicht ungefährliche Kehrseite. Der Berliner Professor war wie immer
seinen wissenschaftlichen Arbeiten nachgegangen. Daneben leistete der über
50% Körperbehinderte (der Chirurg Ferd. Sauerbruch hatte einst dem Jurastudenten
nur durch schwerste Operationen das Leben retten können) ihm mögliche
praktische Hilfen. Nun wurde der fast 60jahrige plötzlich jäh aus
seiner Existenz gerissen: Am 12.Juni 1945 erschien plötzlich auf dem Wolfsbrunn
ein amerikanisch uniformierter Pole (Wischinsky ?) und forderte ihn auf, zu
Verhören in die Kreisstadt Miltenberg zu kommen. Er werde bald zurückkehren,
doch empfehle es sich aber, Toiletternsachen zur Übernachtung mitzunehmen.
Daraus wurde eine über halbjährige Internierung im Südbayerischen Lager Moosburg. Wie manche andere empfand der Professor dies als von der falschen Seite kommend und in der Tat wurde sein Widerstand im Hitlerregime bald auch von den Amerikanern anerkannt und er als einer der ersten entlassen. Trotz durchaus fairer Behandlung bedeuteten die Hungerzeit und die zunächst extrem primitiven Lebensbedingungen im Lager eine große physische Gefährdung. Der Philosoph hat aber die Internierung als Bewährungsprobe gut gemeistert. Schwer war aber auch die Lage seiner Frau, die monatelang ohne jede Nachricht von ihrem Mann blieb. Sie hat sich in dieser Zeit hervorragend bewährt. Per "Autostopp" pilgerte sie durch den einsamen Odenwald nach Heidelberg zum ehem. Reichsjustizminister Prof. Gustav Radbruch, der dann wesentlich zur bevorzugten Entlassung ihres Mannes aus dem Internierungslager beitrug.
Weiterhin, noch drei Jahre bis zur Wahrungsreform 1948 und darüber hinaus, wurde existentiell deutlich, was in Notzeiten nur wenige Ar Garten bedeuten, die man für die eigene Ernährung nutzen kann. Besonders sind reiche Kartoffel-, Bohnen-, Tomaten- und Erdbeerernten in Erinnerung geblieben. Dazu kam der Wald, damals noch starker Laubwald, als Ernährungsreservoir: Mit mannigfachen Pilzen, deren gründliche Kenntnis die Hausfrau noch ihrem Vater Richard Küch verdankte, den Beeren (Hirnbeeren, Brombeeren und Heidelbeeren) und Bucheckern für Oel. Wie alle Häuser erhielt auch Haus Wolfsbrunn einen der großen, nummerierten Apfelbäume an der Landstraße zum Abernten. Auf Getreidefeldern konnte man manchmal Nachlese halten. Der Hausherr sammelte gern Bärenklau als Kaninchenfutter. Frau Emge hatte die kleine Parterre-Kammer "Philipp" zum Stall für ihre Hühner umfunktioniert, so daß nur ein einziges Huhn einem der Habichte oder Bussarde, die sich stark vermehrt hatten, zum Opfer fiel.
Die Jahre des Anwesens am Wolfsbrunn als alleiniger Wohnsitz der Familie Emge gingen mit den vierziger Jahren zuende. Drei Jahre hatte der Rechtsphilosoph dort zwar mehrere Arbeiten fertigstellen konnen, war aber auch mit einem schleppenden Entnazizierungsverfahren beschäftigt, bis er 1949 wegen seines dokumentierten Widerstandes, u.a. auch seiner Verbindungen zur Gruppe des 20.Juli entlastet wurde.
Dieses schematische Verfahren durch zunächst wenig Qualifizierte und Orientierte hat ihn psychisch stärker betroffen als seine gefährlichere Internierung. Bereits vor dem Abschluß des Verfahrens hatte ihn aber die Französische Militarregierung zu kulturellen Aufgaben. insbes. zum Aufbau einer Akademie d. Wissenschaften nach Baden-Baden und Mainz berufen, da sein ehem. Berliner Bekannter, Botschafter Francois-Poncet franz. Militargouverneur geworden war. Wenn auch die Berliner Universität in den Sowjetsektor gefallen war und für den über 60 jährigen keine andere Berufung mehr in Frage kam, war er nun doch wieder in seinem kulturellen Milieu.
Natürlich kam nach Kriegsende auf das große, wenn auch höchst altmodische Haus am Wolfsbrunn auch Einquartierung zu. Zunächst brachte ein neu ernannter Landrat in Miltenberg, der sehr liebenswürdig war, sich aber dann als früherer Krimineller herausgestellt haben soll, bei uns vorübergehend seine Freundin unter, der es aber dann doch zu abgelegen und primitiv war. Dann besichtigte es eine größere Flüchtlingsfamilie, die aber wohl aus denselben Gründen nicht bleiben wollte. Meine Mutter notierte sich: „ .... „
Schließlich zog eine aus dem Sudetenland stammende Familie ein. Das große, alte Esszimmer wurde zu einer riesigen Wohnküche, dessen Ofen, auf dem auch gekocht wurde, seinen Schornstein direkt aus einem Fenster streckte. Und in der Nische unseres größten Kamins installierte man die Ehebetten der jüngeren Generation, wo dann nach einiger Zeit auch ein kleiner Junge geboren wurde, das bisher einzige dort geborene Kind überhaupt.Von Schwierigkeiten mit diesen Mitbewohnern hat der Verfasser nie etwas gehört. Man half sich gegenseitig und bei der Weitläufigkeit des Anwesens saß man sich auch nicht auf der Pelle. Auch nachdem diese sudetendeutschen Flüchtlinge im Landkreis eine bessere Bleibe gefunden hatten, blieb man noch einige Zeit mit der Großelterngeneration in Kontakt.
Auch in einem anderen Flügel des Hauses, über den meine Cousine Liselotte Augstein verfügte, wurden Menschen aufgenommen, über welche ich weniger orientiert bin.Wohl zunächst eine temperamentvolle Ungarin mit kleinem, dann eine Frau Kaiser mit gerade erwachsenem Sohn. Hier soll es gewisse Probleme mit meiner herzensguten, aber schwierigen Cousine gegeben haben. Vielleicht hingen sie mit vermißten Sachen, etwa den abmontierten Hirschgeweihen eines großen Kronleuchters zusammen. In dieser Nachkriegszeit, wo es öfter um das physische Überleben ging, durfte man freilich Vieles nicht mit der Goldwaage messen.