VII. Im Zweiten Weltkrieg
Bereits vor diesem unseligen Kriege, den Hitler in der Frühe des 1.Sept.1939 durch seinen Einmarsch in Polen entfesselte, hatten die vier Familien Augstein, Emge, Küch junior und Kraemer beschlossen, die zu großen und umständlichen Erbengemeinschaften zu vereinfachen, welche Haus Wolfsbrunn und die Hanauer Stadtvilla umfaßten. In einem Auseinandersetzungsvertrag übernahmen Augsteins und Emges Haus Wolfsbrunn je zur Hälfte, während Dr. Fritz Küch und Kraemers dafür das Hanauer Haus erhielten. Der Abschluß des Vertrages verzögerte sich aber durch den Beginn des Krieges bis 1941.
Bei Ausbruch des 2.Weltkriegs lag das Haus im Odenwald einsam und mit geschlossenen Fensterläden. Die Besitzerfamilien waren an ihren Hauptwohnorten voll beschäftigt und nur von Zeit zu Zeit sahen Vertrauensleute in den beiden nahen Dörfern nach, ob Alles noch in Ordnung war. Die Verkehrsverhältnisse wurden kriegsbedingt immer schwieriger. Die beiden Enkel Richard Küchs wurden Soldat. Bei Kurzbesuchen im Sommer konnte man nur das Allernötigste zur Erhaltung tun oder veranlassen. Dieser Zustand dauerte drei Jahre, bis gegen Ende des Jahres 1942 Emges beschlossen, den Wohnsitz am Wolfsbrunn zu aktivieren.
Außer den in Kriegszeiten größeren Vorteilen des Landlebens, gab es dafür politische Gründe: Hatte Prof. Carl August Emge Anfang der 30er Jahre selbst eine Regierungsübernahme der Nationalsozialisten befürwortet und war Parteimitglied geworden, so wurde er Mitte der 30er Jahre zum Regimegegner und Hasser Hitlers. Dies hatte ihn zu entsprechenden Kontakten und zur Publizierung leichtsinniger, oppositioneller Aphorismen geführt, allzu gut verstand er sich auch mit dem Französischen Botschafter. Natürlich hatten SS und Gestapo all dies registriert und ein gefährlicher Kollege und Vertrauter Himmlers unterzog ihn gesprächsweise Verhören. Er äußerte, man werde Emge schon "abhalftern". Im Herbst 1942 hatte dann ein neuer, brutaler Reichsjustizminister Emge von einem Ehrenamt entfernt, was auch im Ausland kommentiert wurde. Da schien es ihm doch angebracht, sich weit von Berlin ein Refugium für längere Aufenthalte einzurichten: Haus Wolfsbrunn.
Frau Emge bereitete diesen Plan freudig und tatkraftig vor, ging es doch um ihr liebstes Elternhaus. Sehr geholfen hat ihr dabei eine Freundin, Alexandra Röhl, eine ostpreußische Gutsbesitzerstochter und ehem. Gattin eines Bauhausmalers, die auch mit umsiedeln wollte. So verlegten im Frühjahr 1943 Emges ihren Hauptwohnsitz in den bayerischen Odenwald. Dieser bestand jetzt zwar aus sehr heruntergekommenen, teilweise ruinösen Räumen und war zunächst noch ohne Elektrizität und Telephon. Aber dafür war man ganz entlegen und in vertrauenswürdiger Umwelt, wo die Familie lange bekannt war. Sogar ein kleiner Umzug von einigem Haushaltsgut und einer wissenschaftlichen Handbibliothek konnte noch mit Mühe erreicht werden.
Wie richtig dieser Entschluß gewesen war, zeigte sich bald in zweierlei Hinsicht: 1943 begannen die ersten großen Luftangriffe auf Berlin. Im Februar 1944 wurde dann auch das Haus, worin sich die Mietwohnung der Emges befand, total ausgebombt. Der Hausherr war zur selben Zeit von einem Bekannten ins Berliner Hotel Bristol eingeladen und auch dieses Hotel wurde total zerstört. Die Menschen im verschütteten Luftschutzkeller starben fast alle. Weil der Professor mit seinem Gastgeber in einen benachbarten Keller gelaufen war, entging er diesem Schicksal. So mußte man dankbar sein und hat über den Verlust der Berliner Wohnungseinrichtung und Bibliothek niemals lamentiert. Millionen Menschen erging es damals ähnlich. Nun waren Emges nur noch auf dem Wolfsbrunn zuhause.
Das zweite betraf die Politik. Zum Geburtstag seiner Frau hatte Emge am 9. Juni 1944 gedichtet:
"Wölfe heulen um das Haus,
halte trotzdem wacker aus,
ewig gehen nicht zum Brunnen Krüge,
welche schon gesprungen,
und so wird einst Friede sein"
Emge war insbesondere durch zwei Berliner Kollegen (Heinrich Popitz und Jens Jessen) vage über die Umsturzpläne orientiert, die zum 20. Juli führten. Jessen hatte ihn kurz davor sogar über den Zeitpunkt orientiert und am 19.Juli traf Emge in Berlin ein. Als das mutige Unternehmen am folgenden Tage mißlang, fuhr er sofort zum Wolfsbrunn zurück. Über informelle Frauen-Netzwerke, deren damalige Bedeutung groß war und zu denen auch ein ehemaliges Hausmädchen von Jessen gehörte, erfuhr man Weiteres. In einem Brief vom 26.11.44 berichtete der Professor seinem Sohn: "Von Berlin hörten wir über Elfriede, die ihre frühere Herrschaft Prof. Jessen besuchte, Trauriges: Er in Ketten, Popitz sei zum Tode verurteilt". Und der Vater schloß: "Ich bin froh, hier' soweit vom Schuß' zu sein."
Popitz und Jessen wurden hingerichtet. Hatten sie und eine andere enttarnte Oppositionsgruppe (Solfkreis), wo sein Name in Anwesenheit eines Spitzels gefallen war, darüber schweigen können? Es kam aber nicht einmal zu einem offiziellen Verhör. Doch außer Warnungen aus Berlin hatten zwei lokale Dinge damals für weitere Beunruhigung gesorgt: Das Hausmädchen Rosl Brandl hatte auf einer Bahnfahrt in einem Koffer Sachen des Professors aus Hanau transportiert. Gerade dieses Gepackstück war auf rätselhafte Weise einige Zeit verschwunden. Dann tauchte es plötzlich wieder auf und sie stellte fest, dass es sorgfaltig durchsucht worden war. Die Polizei unterzog sie in diesen Tagen auch einem Verhör. Ferner war auf der Landstraße gegenüber dem Wolfsbrunn tagelang ein mysteriöses Auto aufgefallen, das niemandem bekannt war und das sich stets entfernte, wenn man sich näherte. Von dort kontrollierte man tagelang die Zugänge zum Haus, kam aber nicht hinein. Doch verlief alles glimpflich. Zum zweiten Mal hatte sich das alte Landhaus als Zufluchtort bewahrt. Eine leichte Erkrankung war für den Professor Anlaß, sich für das Wintersemester 1944/45 ganz von Berlin beurlauben zu lassen. In jener dunkelsten, rechtlosen Epoche hing bekanntlich so vieles von Zufällen ab. Jedes unbefriedigend verlaufene Verhör und jede Verhaftung konnte, wo schrankenlose Willkür herrschte, selbst unbeteiligten Menschen das Leben kosten.
Der definitive Wohnsitz im Odenwald machte bald manches dort leichter. Man erreichte den Anschluß an die Elektrizität und das Aufflammen der ersten Glühbirne war eine Riesensensation. Petroleum, Glühstrümpfe für die entsprechenden alten Lampen oder Kerzen waren ja auch immer schwieriger zu beschaffen gewesen, und man mußte ja dringend ein Radio auf dem Wolfsbrunn anschließen, um ausländische Nachrichten zu hören. Bald folgten ein kleiner Elektroherd und eine elektrische Pumpe.
An dieser Stelle muß eines deutlich herausgestellt werden: Frauen und Frauenkontakte haben nicht nur den größeren Teil dieser Umsiedlungsleistung vollbracht als der oft unpraktische Professor, sondern das Ganze überhaupt erst möglich gemacht. Dies dürfte damals auch generell so gewesen sein. Man darf sich fragen, ob Not- und Krisenzeiten die i.U. zu alten Clischevorstellungen doch wohl stärkere Praxisbezogenheit und Durchhaltekraft des weiblichen Geschlechts stärker hervortreten lassen.
Besuche waren in der Regel willkommene Bereicherungen. Eine komische Panik brach freilich aus, als gegen Kriegsende der bekannte Schriftsteller Graf Hermann Keyserling, befreundet aus früheren Jahren, auf dem Wolfsbrunn Zuflucht suchen wollte. Er war wohl des Asyls in Schönhausen a.d. Elbe bei seiner Schwiegermutter, der Fürstin Herbert Bismarck, beraubt und hielt Haus Wolsbrunn offenbar für ein größeres Gut. Sein Asyl wurde uns gnädig erspart, denn der gewaltige Mann mit schon früher enormem Appetit hatte den kleinen Haushalt in wenigen Tagen zusammenbrechen lassen. Es gab dort bei uns damals zwar Hühner und Kaninchen, aber noch nicht einmal eine Ziege.
Über Weihnachten 1944 kam der Sohn vor Kriegsende und Gefangenschaft letztmalig auf Urlaub nachhause. Noch wurden die Reichsgrenzen gehalten und eine sinnlose deutsche Ardennenoffensive hatte begonnen. Ober die politische und militärische Lage und FINIS GERMANIAE war man sich zwar lange einig. Aber der Vater konnte nun über Ausmaß und Grenzen seiner Gefährdung aufklären, das Verhalten bei möglichen Verhören war abzustimmmen. Jessen und andere hatten belastende Post von ihm erhalten, war etwas davon gefunden worden? Auf dem Wolfsbrunn wurden die vielen, kleinen Taschenkalender mit wachsender Regimekritik nun jedenfalls an heimlicher Stelle in einem alten Renaissanceschrank versteckt. Doch ernsten Gesprächen widmete man nur recht wenige Zeit, die kostbaren Weihnachtstage sollten nicht getrübt werden. Beim Abschied fragte sich natürlich jeder, wann, wie und ob man sich wiedersehen werde.
Im März 1945, zwei Monate vor Kriegsende, traf Emges noch ein weiterer, schwerer materieller Verlust. Das Hanauer Elternhaus des Hausherrn, sein einziger Besitz nach dem Verlust seiner Berliner Wohnung und Bibliothek, wurde mit der ganzen Altstadt bei einem Terrorangriff vernichtet. Nur wenige Tage später rückten die ersten Amerikaner in die Trümmerstadt Hanau ein. Die alte Tante Johanna Brack geb.Koch, Schwester der Mutter von C.A.Emge, die noch in der Hanauer Emge-Haus gewohnt hatte, war nach dessen Zerstörung von Canthals in Hanau aufgenommen worden. Sie wird nun von einem Arzt nach Haus Wolfsbrunn gebracht. Später wird sie in die Amorbacher "Villa Derflinger" umziehen,wo ein Seniorenheim untergebracht war.
Der Krieg näherte sich seinem Ende. Wann würden die alliierten Truppen in den bayerischen Odenwald kommen und von welcher Richtung in das stille Waldbachtal einziehen? Würde es auch in dieser Gegend letzte sinnlose Zerstörungen und Verteidigungsversuche von unbelehrbaren Narren geben? Die Amerikaner kamen am Karfreitag, dem 30.März. Sie kamen nicht von Amorbach, sondern über die Höhen von Michelstadt, Breitenbuch nach Watterbach herunter. Es war nicht auszuschließen, daß das kleine "Schlößchen", wie es in der Gegend meist genannt wird, von vorrückenden Besatzungstruppen sicherheitshalber unter Beschuss genommen werde. Der Professor notierte sich über diesen Tag:
"30.Marz Carfreitag 1945,Regen.Vorm.erst ruhig, dann mehr Schießerei aus der Richtung Amorbach(?),2 Damen wegen Zimmer.7 ganz junge Soldaten,die fragen,wo man vor Amerikanern sicher sei.Burck(hardtILekt(üre). Nach Tisch ziemlich, später ganz ruhig. Nachmittags um 9 1/2 ruft plötzl. Frau Alexa: Auf der Landstr. von Watterbach eine Riesenkolonne schwerer Panzer (mit roter Flagge), die wir für Amerikaner halten(etwa 4o?). Hören dann, als sie vor dem Haus halten, auch engl.sprechen (als Befehl an die Damen:'w.Fahne'in deutsch?). Die einleuchtende Hypothese, daß von Watterbach nichts mehr käme, da unsere Truppen es verlassen (haben), ist also widerlegt. Gegen 6 Uhr zurückfahrendes Auto etc. Später wieder Richtung Kirchzell einige Panzer. Wetter ist herrl. geworden. Der Verkehr der amerik.Autos auf der Landstr.hält an. Wir sind also wohl jetzt richtig besetzt. Tante Emmas Opernglas z. beobachten."