VI. Die Zweite Generation

Bis zu ihrem Tode 1929 im Alter von 70 Jahren schaffte es die erfahrene Witwe Ida Küch aber doch, Haus Wolfsbrunn mit seinen Jagd- und Fischereirechten, wenn nun auch ohne Auto, einigermaßen im alten Stil für ihre Familie und Gäste zu erhalten. Dabei konnte sie zunehmend auf Rat und Hilfe ihrer vier Kinder zurückgreifen, denen dieses Kapitel gewidmet ist. Diese Kinder werden 1929 das Anwesen Wolfsbrunn von ihr zur Gesamthand erben.

1. Die älteste Tochter Elisabeth (1889-1939) hatte 1913 den Augenarzt Dr. Herbert Augstein geheiratet. Er stammte in dritter Generation aus einer Arztfamilie, sein Vater hatte vor dem ersten Weltkrieg in Bromberg (Westpreußen) eine in ganz Deutschland berühmte Augenklinik aufgebaut. Der Sohn Herbert wurde Assistenzarzt an der Augenklinik der Universitat Freiburg i.Br. Das Schicksal dieser Familie Augstein wird uns noch beschäftigen.

2. Die zweite Tochter Paula (1892-1973) hatte 1914 den Juristen Dr. Carl August Emge geheiratet, Sohn eines Hanauer Bijouteriefabrikanten, die Familien kannten sich natürlich. Emge lehrte später als Professor in Gießen, Jena, Riga und Berlin. Sein Hauptinteresse galt der Rechtsphilosophie. Daß er zunächst in Gießen auch einen Lehrauftrag für Steuerrecht hatte, war für die Familie und andere jedoch von größerem Interesse.

3. Der einzige Sohn Dr. Fritz Küch (1895-1957) hatte gerade sein Studium in Marburg begonnen, als der 1.Weltkrieg ausbrach. Zunächst Kriegsfreiwilliger bei den Hanauer Ulanen meldete er sich bald zur neu aufgestellten Fliegertruppe. Dabei wurde er mehrfach abgeschossen, wonach der junge schwerverletzte Offizier lange Zeit in Lazaretten lag. Nur mit eiserner Diszip1in konnte er sich von dem ihm von den Ärzten jahrelang verabfolgten Morphium befreien (was Göring bekanntlich nicht gelang). Anfang der 20er Jahre wurde Fritz in Frankfurt zum Dr. der Volkswirtschft promoviert und trat dann in die Firma Heraeus in Hanau ein, wo er Abteilungsleiter und Prokurist wurde.1926 heiratete er Gerda Maiwald, die Ehe blieb kinderlos.

4. Die jüngste Tochter Emilie (Emme) Küch (1902-1957), Nachzüglerin und Nesthäckchen, heiratete 1926 den Apotheker Helmut Ernst Kraemer, der dann die Manheimer Löwenapotheke, an den Plancken, zur führenden Stadtapotheke entwickelte. 1957 wird Emme Küch allzufrüh an Pankreas Krebs sterben, ihre zwei Söhne Helmut und Hartmut waren damals noch Schuljungen.

Diese vier Kinder bildeten also die Erbengemeinschaft, der nach dem Tode der Mutter 1929 das Anwesen am Wolfsbrunn zufiel. Die Zeit war kritisch, da bereits wenige Monate später der "black friday" in New York die große Weltwirtschaftskrise einleitete. Da die Erben wirtschaftlich weder in der Lage waren, den Standard am Wolfsbrunn aufrechtzuerhalten, noch größere Investitionen zur Modernisierung zu tätigen, wurde der Besitz problematisch.

Daß das Anwesen den Nachkommen von Richard Küch erhalten blieb, ist neben Pietets- und Heimatgefühlen wohl auch der Tatsache zu verdanken, daß aus einem Verkauf kein nennenswerter Erlös zu erzielen war. Wer konnte in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit, Notverordnungen und Bankenzusammenbrüchen an einem veralteten großbürgerlichen Landsitz Interesse haben?

Im Jahrzehnt 1930 - 40 ist es vor allem der Familie Augstein zu verdanken, daß Haus Wolfsbrunn erhalten blieb. Dazu trug Verschiedenes bei. Augsteins waren eine alte Gutsbesitzerfamilie in Ostpreußen, auch der medizinische Zweig blieb zunächst mit dortigem Grundbesitz verbunden. Man war also mit dem Landleben vertraut.
Hinzu sollte dann aber noch kommen, daß Haus Wolfsbrunn für das Ehepaar Augstein und die drei Kinder Mitte der 30er Jahre zu einem wichtigen, abgeschirmten Refugium wurde. Dies ist ja eine latente Funktion, welche die meisten älteren Häuser auf dem Land bei Bedarf aktivieren können.

Durch die antisemitische Gesetzgebung der Hitler- Diktatur hatte Dr. Herbert Augstein in Freiburg zunächst seine Kassenpatienten und dann seine Praxis verloren. Er war durch seine Mutter Gertrud Jacoby halbjüdischer Herkunft. Es half ihm zunächst auch nichts, daß sein Vater, der angesehene Geheimrat Dr. Karl Augstein, sehr prominenter Repräsentant des Deutschtums in Bromberg, nach dem 1.Weltkrieg von den Polen ausgewiesen worden war. Auch nicht, daß sein jüdischer Großvater Dr. Jacoby aus Thorn, in drei Kriegen als Militärarzt an der Front bewahrt und dann gleichfalls Arzt in Bromberg, im Königreich Preußen mit höheren Orden und ebenfalls schon dem Geheimratstitel ausgezeichnet worden war. Ein bezeichnendes Beispiel deutschjüdischer Tragik und Paradoxie. In diesen schweren Jahren wurde der Wolfsbrunn also zumindest für die wärmeren Monate für Augsteins eine Zuflucht. Frau Lisel, wie ihre Mutter eine gute und gütige Hausfrau, konnte dort billig wirtschaften und auch zahlende Gaste aufnehmen .

Erst nach vielen Eingaben und Gesuchen, auch seines Schwagers Emge, konnte dann dieser Küch'sche Schwiegersohn seit 1938, dem Vorabend des Krieges, wieder eine Praxis, diesmal im Ruhrgebiet, ausüben. Bald nach dem Umzug und Einrichtung der neuen Wohnung starb seine Frau, die älteste der Küch'schen Töchter, es war wohl das strapazierte Herz, das versagte. Augsteins setzten die Urne im kleinen Wäldchen oberhalb des Wolfsbrunn unter einem Rhododendronbusch bei, der noch heute gelegentlich unter Kiefern blüht.

Berufsbedingt kamen Emges, zunächst in Thüringen, zeitweise zu Gastprofessuren in Riga, dann in Berlin lebend, seltener in den Odenwald. Doch ließen sie ihren Sohn öfter in den Schulferien dort, wo ihn seine Tante Liesel rührend betreute und er von seinen Cousinen und seinem Vetter viel Praktisches lernen konnte. Wenn auch niemand recht lernte, wie einige Bauernbuben Forellen mit der Hand unter Steinen im Bach zu fangen, so baute die Jugend sich doch zusammen Hochsitze in den Bäumen und ein eigenes, kleines Blockhaus im Wäldchen. Fritz Küch kam manchmal Zur Jagd, dann hing das Wild im Felsenkeller von der Decke herab. Doch wurden die Jagdpachten als zu kostspielig irgendwann aufgegeben. Die Mannheimer Kraemers verloren das Interesse und bauten sich ein eigenes, für sie leichter erreichbares Refugium im Wald. So steuerte alles auf eine Erbauseinandersetzung hin. Bei dieser übernahmen dann die älteren Schwestern Augstein und Emge den Wolfsbrunn, die jüngeren Geschwister das Hanauer Haus. In der Regel ziehen sich solche Überlegungen und die juristischen Prozeduren länger hin, wenn niemand drängt.