IX. Zur Dritten Generation

Es ist an der Zeit, die dritte Generation der Wolfsbrunner einzuführen. Der einzige Sohn des Gründerehepaars, Dr. Fritz Klich in Hanau, war freilich, wohl infolge seiner schweren Kriegsverletzungen, kinderlos geblieben. Wie wir schon berichteten, hatte er sich, wie seine jüngste Schwester Emme Kraemer in Mannheim, aus der Erbengemeinschaft Wolfsbrunn zurückgezogen, um dafür die von ihm bewohnte Küch'sche Stadtvilla zur Hälfte zu Übernehmen. Infolgedessen wird über beide Familien in unserem Zusammenhang nicht mehr näher berichtet werden. Immerhin soll doch noch erwähnt werden, daß Fritz Küch insofern mit der Gegend verbunden blieb, als er sich in der Dorfgemeinde Watterbach ein Ferienhäuschen baute und auch weiterhin gern zur Jagd dorthin kam. Bei seiner Beisetzung in Hanau 1957 blies der Watterbacher Bürgermeister den Jägergruß.

Zwei Töchter der Erbauer, Elisabeth Augstein und Paula Emge, die den Wolfsbrunn seit Anfang des 2.Weltkriegs je zur ideellen Halfte besaßen, hüteten den Besitz am Wolfsbrunn weiter.

Zunächst zur Medizinerfamilie Augstein:
Der verwitwete Augenarzt Dr. Herbert Augstein, in des Krieges mit überfüllter, anstrengender Praxis im Ruhrgebiet, erlebte noch das Kriegsende und damit das Ende des antisemitischen Albtraums. Dann starb der Kettenraucher 1946.

Die älteste Tochter Liselotte Augstein, "Otti" genannt, war 1914 geboren. Geisteswissenschaftlich orientiert und begabt, strebte sie in den höheren Schuldienst und studierte an der Universität Freiburg im Hauptfach Gemanistik. Der Rassenwahn des "Dritten Reichs" machte ihre Berufsplan zunächst zunichte. Hatte sie doch eine jüdische Großmutter, deren "Blut" angeblich stärker war und wirkte als das der drei anderen Großeltern zusammen, kein Ruhmeszeichen für eine angeblich bessere "Rasse". So konnte die junge Otti zwar ihr Studium erfolgreich abschließen und wurde 1940 zum Dr. phil. promoviert, aber zum Staatsexamen ließ man sie nicht zu. Diese Erfahrung mag ihrem im Grunde liebenswerten und sehr begeisterungsfähigen Charakter eine gelegentliche Schroffheit und Ungeduld beigefügt haben, mit welcher sie manche kränkte, die sie nicht näher kannten.

Während des Krieges an der Potsdamer Sternwarte tätig, konnte Otti nach dem Kriege endlich in den erstrebten Schuldienst eintreten. Mit ihrem Engagement und großer Kameradschaftlichkeit zu ihren Schülern war sie eine beliebte Lehrerin an nordrhein-westfälischen Gymnasien. Nach dem Tode einer Schulkollegin, bei der sie wohnte, zog es die pensionierte Studiendirektorin in den Odenwald zurück. Sie mietete eine Wohnung in Kirchzell, behielt aber bis zu ihrem Tode ihre Wohnung in Haus Wolfsbrunn bei, das sie über Alles liebte und mit unterhielt. Die über 80jährige flütterte alle Katzen des hinteren Odenwalds und lernte noch mit über 80 Jahren Russisch im Fernstudium, stolz auf entsprechende Erfolge. Pflegebedürftig in ein Amorbacher Altersheim gezogen, starb sie nach einem Schenkelhalsbruch im 88 Lebensjahr, eine der eigenständigsten Persönlichkeiten, die wir kannten.

Der einzige Sohn der Augsteins, nach seinen Großvätern Karl Richard getauft und "Kari" genannt, wäre ein geeigneter Besitzer des Anwesens am Wolfsbrunn geworden, wenn wir von wissenschaftlichen Traditionen einmal absehen. Stark und sportlich, praktisch und handwerklich begabt, wollte der gutaussehende Naturbursche nach seiner mittleren Reife die Tradition der Augsteins fortsetzen, die vor und neben der Medizin seit Jahrhunderten auch Gutsbesitzer am ostpreußischen Kurischen Haff gewesen waren. So wurde er nach seinem "Einjährigen", wie es damals hieß, also nach der mittleren Reife, Landwirtschaftlicher Eleve und Landwirtschaftsinspektor. Bei Kriegsausbruch Soldat, zeichnete er sich an der Ostfront durch besondere Tapferkeit aus, wurde mit Orden hoch dekoriert und war mit Sondergenehmigungen wegen seiner Herkunft Wachtmeister bei einer reitenden Truppe, dann wohl Panzereinheit geworden. Blieb ihm der Weg zum Offizier versperrt? Der Prototyp eines deutschen jungen Mannes, wie ihn das damalige Regime haben wollte, dessen Teuflischkeit er wohl niemals erkannte, ein Mann der Hitlerjugend, Arbeitsdienst, Aufrüstung und Kampf gegen den Kommunismus voll bejahte, fiel bei Kowel 1944. Das Foto seines Soldatengrabs mit Birkenkreuz ist eindrucksvoll.

Auch den Kari zog es bei Urlaub von der Front immer wieder nach dem Wolfsbrunn, von dem er einen winzigen Erbteil besaß und wo er sich im Parterre eine bescheidene, doch auch sturmfreie Bude eingerichtet hatte. Wie schon als Junge war er dabei meinen Eltern stets hilfreich, zu Arbeiten und Verbesserungen im Haus, Wäldchen und Gartenland bereit und tüchtig, ein lieber und angenehmer Hausgenosse. Der Gedanke an seinen allzufrühen Tod, unter 4-5 Millionen der deutschen Wehrmacht in einem von der deutschen Führung mit Hybris entfesselten Kriege, führt zum Nachdenken über die Absurditäten und Ungerechtigkeiten dieser Welt. Für wen und was war Kari gefallen? Für die Peiniger seiner Familie? Daß er in seinem kurzen Leben Erfolg bei Frauen hatte, tröstet nur wenig.

Das jüngste Kind der Augsteins war die 1920 geborene Tochter Eva Maria, "Ev" genannt (wobei angemerkt wird, daß kein Kind in den Wolfsbrunn- Familien mit einem seiner stets mehrfachen, klassischwürdigen Taufnamen, sondern stets mit einem Kürzel oder Spitznamen benannt wurde). Ev war ein munteres, praktisches, sportliches Bilderbuchmädchen, blond wie ihr Bruder, dessen Lederhosen sie auftrug. Wie die Wolfsbrunn-Buben tollte sie am Bach herum und kletterte auf Bäume. Wie diese half sie gern bei den Heuernten. Sie war musikalisch und spielte gut Ziehharmonika.

Ev wollte, entsprechend der drei Generationen zurückreichenden Tradition ihrer väterlichen Familie ebenfalls Ärztin werden. Nach dem Verlust der väterlichen Augenarzt-Praxis in Freiburg war die finanzielle Situation der Familie aber schlecht, das Medizinstudium bekanntlich lang und teuer. An die Aufhebung der antisemitischen Diskriminierung war sobald nicht zu denken. So entschloss sich Ev dazu, nach der mittleren Reife in die Praxis zu gehen und ließ sich als medizinisch-technische Assistentin ausbi1den. Nach Wiederzulassung ihres Vaters 1938 in Oberhausen war sie ihm eine wertvolle Hilfe.

Nach dem Kriege holte Ev zügig ihre Reifeprüfung und ihr Medizinstudium nach und richtete sich dann in Amorbach eine eigene Praxis als Augenärztin ein. Von da an gab es dort den Witz: Amorbach ist eine besondere Stadt. Die Augenärztin heißt Augstein, der Tierarzt Eichhorn und der Zahnarzt Beisser. Ev war sehr burschikos - die Tierfreundin hatte auch Elefanten und Krokodile behandelt - aber eine gute Ärztin. Sie baute sich dann ein hübsches Haus auf einer Anhöhe über Watterbach, wo sie mit einer Freundin 1ebte, die schon den Vater Augstein betreut hatte. Ihrem großen Garten und einer Koppel Rauhhaardackeln galt ihre besondere Liebe. Mit der Dorfbevö1kerung stand sie seit ihrer Jugend auf Du und Du, zog sich sonst aber zunehmend von jedem gesellschaftlichen Verkehr zurück. Wie ihre Schwester blieb sie überaus eigenständig. Beide Schwestern wurden auf dem idyllischen Watterbacher Friedhof beigesetzt. Requiescant in pace.
Damit beenden wir unser kleines Requiem auf einen einst kräftigen Zweig der Familie Augstein, dessen Absterben die exzeptionellen Zeitläufe bewirkt haben. Doch haben sie niemals darüber geklagt.

Der letzte überlebende Enkel der Wolfsbrunn-Gründer ist der Schreiber dieser Erinnerungsblätter, um die ihn seine drei Kinder baten. An ihn fielen durch Legat und Erbauseinandersetzung sch1ießlich auch die Anteile seiner Cousinen. Nach mehreren manchmal komplizierten und entsprechend unbeweglichen, doch stets friedlichen Erbengemeinschaften liegt damit nach fast 80 Jahren das Anwesen am Wolfsbrunn erstmals wieder in einer Hand. Es ist die Hand eines schon 86 Jahre alten emeritierten Professors der Bonner Universität. Er versucht das Erbe zu erhalten, soweit ihm dies möglich ist. Sinnvoll erscheinenden Modernisierungen durch kleinere Umbauten, eine Zentralheizung, ja das Bohren einer neuen Quelle für besseres und reichlicheres Wasser wich er nicht aus.

In Universitatsstädten aufgewachsen, in Genf, Berlin, Heidelberg und am Europakolleg in Brügge Student, mußte der Verf. zum Städter werden. Paris, Ottawa und Bonn kamen als Berufsorte hinzu, seit 1953 im Auswärtigen, seit 1962 im Hochschuldienst. Doch hat ihn der häufige Wohnortswechsel in keiner Stadt feste Wurzeln schlagen lassen. Aus fränkischer Familie stammend, haben ihm dafür seine alljähr1ichen Urlaubswochen im Waldbachtal schon längst das Gefühl vermittelt, daß dort seine Heimat ist. Wie seiner Mutter, seinen Cousinen und seinem Vetter.